Dass an der Wall Street andere Bewertungen aufgerufen werden als im alten Europa, ist an der Börse seit Jahren die Regel. Doch auch die Überflieger aus dem Tech-Segment müssen mittelfristig Wert und Preis stimmen, sonst wird es gefährlich.
Bis vor wenigen Wochen lieferte der Terminmarkt eine klare Marschroute für die Fed: Spätestens ab dem Sommer sollten die Zinsen wieder sinken. Doch diese Hoffnungen schmelzen derzeit wie Schnee in der Sonne. Selbst steigende Renditen an den Anleihemärkten scheinen die US-Techaktien nicht zu interessieren. Seit dem Jahreswechsel schnellte der Nasdaq 100 um knapp 40 Prozent in die Höhe.
Das Problem erklärt Ricardo Evangelista, Senior Analyst bei ActivTrades: „Die Kurse sind nicht nur optisch gestiegen, auch aus Sicht der Bewertung müssen Anleger inzwischen tief in die Tasche greifen. Populäre Kennzahlen wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis zeigen es deutlich.“ So haben zahlreiche Unternehmen gut von der Inflation profitiert und ihre Margen teilweise ausgebaut. Wenn Waren zu hohen Preisen noch Käufer finden, gleichzeitig die Inputkosten aber sinken, klingelt es in der Kasse.
Hohe Bewertung begrenzt Kurschancen
Die Kurse sind aber deutlich stärker gestiegen als die Gewinne. So kommt der Nasdaq 100 seit Jahresbeginn auf eine KGV-Bewertungsausweitung von rund 30 Prozent. Milch und Honig fließen aber nicht ewig. Dank großzügiger Corona-Hilfen sind die Ersparnisse der Amerikaner zwar kräftig gestiegen und stabilisierten den Konsum. „Inzwischen werden aber die finanziellen Mittel knapper und Banken erhöhen ihre Rücklagen für Kreditausfälle“, weiß Dennis Austinat, Deutschland-Chef von Trive, der internationalen Multi-Asset-Plattform.
Sind die Erwartungen nicht zu hoch angesetzt, überstehen Aktienmärkte einen Realitätscheck meist ohne größere Folgen. Jetzt aber sieht die Rechnung anders aus und gerade die sieben Schwergewichte, auch bekannt als die Glorreichen Sieben, müssen Luft ablassen. „Im Mai waren die sieben größten Tech-Aktien für die Hälfte der Gewinne des Nasdaq 100 verantwortlich“, erklärt Austinat.
Tech-Aktien vor Realitätscheck?
Schauen wir auf die harten Fakten: Unterstellt man konstante Unternehmensgewinne, hat Amazon im Jahr 2321, also in knapp 300 Jahren, seinen aktuellen Börsenwert wieder verdient. Rund 220 Jahre müssen Anleger bei Nvidia warten bis sie den Wert erhalten, den sie für die Aktie bezahlt haben. Alles rund um Künstliche Intelligenz ist zweifellos wegweisend und wird die Zukunft maßgeblich bestimmen. Und Unternehmen, die in diesem Bereich aktiv sind dürften auch weit überdurchschnittliche Wachstumsraten aufweisen. Doch Bäume wachsen bekanntlich nicht in den Himmel und je weiter die Kurse jetzt auf der Oberseite übertreiben, desto schmerzhafter droht der Realitätscheck zu werden.
Seine letzte Korrektur von mindestens drei Prozent zeigte der S&P 500 Anfang März. Im Mittel sind solche Rücksetzer alle zwei Wochen zu beobachten. Ein weiteres Beispiel für die laufende Übertreibung ist Tesla, ein weiterer Titel aus der Gruppe der Glorreichen Sieben. 13 Handelstage in Folge leuchtete ein Kursplus auf – Rekord. Der Umsatz könnte dieses Jahr erstmals bei mehr als 100 Mrd. Dollar liegen. VW spielt mit erwarteten Erlösen von rund 330 Mrd. Dollar noch in einer anderen Liga. An der Börse bringt Tesla aber 825 Mrd. Dollar auf die Waage, die Wolfsburger nur 80 Mrd. Dollar. Tesla ist 10 Mal so teuer im Vergleich zu VW bei einem Drittel der Umsätze.
Google mit moderaterer Bewertung
Von den sieben großen Tech-Firmen aus den USA wird derzeit nur die Alphabet-Aktie mit einem aktuellen KGV von weniger als 30 gehandelt. „Selbst Apple war auf dem Papier nur Ende 2020 für kurze Zeit teurer als derzeit“, erklärt Evangelista. Der Preisaufschlag beim iPhone-Konzern von satten 20 Prozent auf den Durchschnittskurs der vergangenen 200 Handelstage zeigt ebenfalls, dass die Gefahren zunehmen, wenn Anleger der Rally hinterherlaufen.